Krimi, Dinner & Theater
Ein frei erfundener Erfahrungsbericht


Warum tun Sie sich das an?

Vorher.

Ausgerechnet heute ist Champions League! Oder besser: wäre gewesen. Seufzend winke ich dem Bild hinterher, das noch einmal vorüberzieht und für immer verschwindet: meine weiche Couch, das eiskalte Sixpack und eine wagenradgroße Pizza Diavola; die obligatorischen Zutaten meines eben beerdigten Fußballabends.

Stattdessen haben unsere langjährigen Freunde Birgit und Stefan uns für heute Dinner Theater verordnet. Tolle Freunde; zerren mich nach einem stressigen Büromarathon aus meinem wohlverdienten Gammel Wochenende! Claudia gluckste vor Freude; natürlich hätten die beiden ihr zur Silberhochzeit keine größere Freude machen können. Ich bedankte mich routiniert und konnte mit dem Geschenk nichts anfangen. Wie auch, es war ja weder Alkohol noch Technik. Claudia und ich sind ein Pärchen aus dem Klischee-Bilderbuch: Sie – jede Woche ein neuer Roman, Urlaubsplanerin, Theaterfan und ich – jedes Jahr ein angefangener Roman, Couchpotato, Ausgehmuffel. Natürlich witterte ich die Didaktik hinter diesem großzügigen Erlebnis-Geschenk; oft genug musste die duldsame Birgit sich Claudias Klagen über mich anhören, dass wir zu wenig gemeinsam erleben.

Das soll heute bitte schön aufhören. Während Claudia uns in die Ödnis eines fußballfreien Abends lenkt, fingere ich den Flyer aus dem Couvert mit den Eintrittskarten. „Interaktives Kriminal Dinner“ lese ich. Alles klar. Das heißt wahrscheinlich, dass mich irgendwelche Schauspieler auffordern, irgendwas Peinliches zu tun. Ich dachte, der Tiefpunkt meiner Laune sei erreicht – ein törichter Irrtum. Aber Widerstand ist zwecklos. Am Montag ruft Birgit an und will wissen, wie’s war. Dann müssen wir ganz viel Großartiges erlebt haben.

„Freust Du dich schon?“ unterbricht Claudia meine fruchtlosen Gedanken. Ihre etwas zu gute Laune kaschiert nur dürftig den Untertext: „Versau mir bloß nicht den Abend!“ Wie so oft ist mein Schweigen ein ausdruckstarker Grund für eine kleine Attacke: „Sei doch froh, mal was Besonderes zu erleben und nicht immer nur Fußball.“ „Woher weißt Du, dass es was „Besonders“ ist?“ kontere ich trotzig, „warst du schon mal da?!“ Ihr strenger Blick beendet unser Wortgefecht und wandert an mir herab: Flanellhemd, Jeans, Sneakers – Mist. Wahrscheinlich bin ich auch noch falsch angezogen! Claudia trägt zeitloses Schwarz mit Pumps und passt lässig in jedes Ambiente. Ein erneuter Blick auf den Flyer erhärtet meinen Verdacht: ein 4 Sterne Hotel! Da legt man bestimmt Wert auf Abendgarderobe. Na toll.

Ein bemühter Pinguin befreit uns von unseren Eintrittskarten und führt uns an unseren Tisch. Ich werfe einen verstohlenen Blick in die Gäste und stelle erleichtert fest, dass meine Klamotten völlig im Rahmen sind. Erste Hürde genommen! Doch kaum hat uns der Kellner abgeliefert die nächste Überraschung: Wir sitzen nicht allein! Acht Mitsitzer hocken bereits um das Rund mit brennenden Kerzen und hübsch arrangierter Tischdeko. Man ist im Gespräch – offenbar kennen sich alle. Ich werfe ein betont lockeres „Hallöchen“ in die Runde, das mich schwer an das Fahrstuhl-Gruss-Ritual unserer Norwegen-Kreuzfahrt erinnert – apropos, ist „Kreuzfahrt“ nicht das Thema des heutigen Abends? Aber wir sind doch in einem Hotel und nicht auf dem Meer?! Die Unvereinbarkeit dieser Welten macht mich irgendwie neugierig. Hm.

Nachdem ich mich mit einem Schluck Frischgezapften akklimatisiert habe, erscheint eine charmante Dame mit einem Stapel Tischkärtchen. Ach ja, es ist ja interaktiv. „Wer will denn heute Abend eine kleine Rolle übernehmen?“ Alle schauen sich ein wenig unbeholfen an; schließlich weiß keiner, was genau auf ihn zukommt. Claudia weist mit dem Kinn in meine Richtung „Er würde gern mitmachen.“ Alle Blicke wandern zu mir, Claudia kichert. Na warte! Ich nehme die Herausforderung an; schließlich bin ich nicht auf den Mund gefallen! Die Dame stellt jedem seine neue Identität vor die Nase und zieht weiter. „Und?“ wollen alle wissen. Ich lese: „Dr. Wolf Sander, Schiffsarzt mit Patienten Allergie“. Nicht schlecht. Aber noch ist es zu früh, hier irgendetwas witzig zu finden. So schnell kriegen die mich nicht!

Plötzlich spricht ein Mann mich von hinten an. Erstaunt blicke ich in das vollbärtige Antlitz eines waschechten Kapitäns, der mir seine weiße Pranke entgegenstreckt. Die Aufklärung folgt auf den Händedruck: „Willkommen auf der ersten Kreuzfahrt der Geschichte.“ Ich spiele mit und beeindrucke ihn mit meinem überschaubaren Nautik-Vokabular. Er klärt uns über den Anlass des Abends auf: „Leider ist unser Kreuzfahrt Direktor verschollen und die Reederei will mit diesem Kapitäns-Dinner verhindern, dass die Stimmung kippt.“ Stolz nickt er in den Saal: „Heute ist alles da, was Rang und Namen hat“. Ich schaue mich um und lese ein Wer-ist-wer der Gründerzeit: Krupp, Thyssen, Monet, Klimt, Steiff, Kollwitz, Rosa Luxemburg. Oha. Der Schiffslenker grüßt und gibt sein Stelldichein am nächsten Tisch. Er begrüßt jeden der etwa 80 Gäste einzeln – Respekt! Eine Schiffsglocke ertönt und die Gespräche verstummen. Das Stück fängt an.

Danach.

„Und, wie hat’s Dir gefallen?“Claudia fordert ihre Belohnung; als verlängerter Arm der Schenker fühlte sie sich den ganzen Abend für mein Wohlbefinden verantwortlich. „Gut.“ Sie lächelt: „Du warst ein großartiger Schiffsarzt.“ Ich muss ehrlich sagen – sie hat recht. Mein Auftritt nach der „Obduktion“ in blutiger Metzgerschürze sorgte für Szenenapplaus und die Pointen, die mir die Matrosin draußen in den Mund gelegt hatte, verwandelte ich in Schmetterbälle, die zielgenau im Zwerchfell der Gäste einschlugen. Am Tisch erntete ich nochmal einen extra Applaus – und ich fühlte mich großartig. Wobei ich sagen muss, dass auch viele andere Gäste klasse auf die Schauspieler reagiert haben.

Ich blicke aufs Handy: 23 Uhr! Wahnsinn, der Abend ging vier Stunden! Wir wurden richtig betüddelt; Theaterspiel, Essen, Theaterspiel, Essen – und am Ende gab’s Sekt für die Gewinner der Ermittlung. Als Krimi-Spezialist hatte ich die Indizien, die zur Begutachtung auslagen, genau inspiziert; konnte aber meinen Tisch nicht von der richtigen Lösung überzeugen – schade!

Mein Blick schweift in den nächtlichen Wald, der mit 100 km/h vorüberfliegt. Es war ein schöner Abend. Mein Essen war echt lecker, kriegt man nicht alle Tage. Sogar Claudia war zufrieden mit Ihrem vegetarischen Menü. Wir haben ein paar entspannte Leute kennen gelernt und ich bin rausgekommen – auch aus mir selbst. Ich nehme Claudias Hand. Sie schenkt mir einen lasziven Seitenblick. „Gut, dass ich Sie geheiratet habe, Herr Doktor“.

Wie war eigentlich Champions-League? Mein Verein hat 3:0 verloren. Zum Glück musste ich das nicht miterleben!

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